Ich hatte bereits im letzten Nachschlag geschrieben, dass ich die deutsche Mannschaft als Medaillenanwärter betrachte. Trotz des Fehlens von Nick Weiler-Babb, David Krämer, Moritz Wagner und Isaiah Hartenstein ist die individuelle Qualität dieser Mannschaft hoch. Darüber hinaus war auch eine kollektive Entwicklung im Rahmen der Vorbereitung erkennbar. Unter dem neuen Bundestrainer Alex Mumbru, der aktuell in Tampere mit einem akuten Infekt im Krankenhaus liegt und in der Auftaktpartie von Alan Ibrahimagic als Head Coach vertreten werden wird, hat es spieltaktische Veränderungen gegeben, die mir gefallen und auch funktionieren. Natürlich können diese Neuerungen nicht sofort perfekt umgesetzt werden, aber ich sehe die Mannschaft auf einem guten Weg.
Die Spieler und ihre Rollen
Dennis Schröder und Franz Wagner sind eindeutig die Schlüsselspieler dieses Teams. Sie sind einerseits die besten 1-1-Spieler und Scorer, andererseits aber auch unverzichtbar als kreative Vorbereiter. Alex Mumbru wurde fast schon dafür angezählt, dass er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Gordon Herbert der Mannschaft auch Minuten mit den beiden Stars auf der Bank zutraute (positive Sicht) beziehungsweise zumutete (negative Sicht). Aber der Versuch war legitim, denn in einer Vorbereitung kann und sollte man unterschiedliche Konstellationen ausprobieren. Aber im letzten Test am Sonntag gegen Spanien stand immer eine der beiden Gallionsfiguren auf dem Parkett.
Ohne Krämer hängt die Mannschaft auf der Position des Shooting Guards und bei den Möglichkeiten zum toughen Shotmaking von der Dreierlinie stark am Tropf von Andi Obst. Glücklicherweise steigerte sich der 29-Jährige gegen Ende der Vorbereitung. Auch der angeschlagene Maodo Lo hatte seine Probleme, muss aber bereit sein, weil Schröder im Turnierverlauf Entlastung im Spielaufbau benötigen wird. Isaac Bonga überzeugte vollends in den Testspielen. Mittlerweile spielt er auch in der Nationalmannschaft wie bei Partizan Belgrad nominell auf der Vier. Dabei setzte er an beiden Enden des Feldes wertvolle Akzente. Johannes Voigtmann und Johannes Thiemann sind aufgrund ihrer Erfahrung und Spielruhe wichtige Faktoren und dürften aufgrund der nicht hundertprozentigen Fitness von Daniel Theis auch Minuten auf der Fünf erhalten. Ich gehe davon aus, dass sie dort den Vorzug vor Leon Kratzer und Oscar da Silva erhalten werden, die ähnlich wie Justus Hollatz nur limitierte Spielzeit sehen dürften. Dagegen hat Nationalmannschaftsneuling Tristan da Silva seinen Platz in der Rotation sicher.
Die Veränderungen des neuen Coaches
Grundsätzlich ist der Stil unter Mumbru defensiv aggressiver und offensiv schneller geworden. Die DBB-Auswahl verteidigt gerne über das ganze Feld und streut nach Freiwürfen eine Zonenpresse ein, was in der Vorbereitung mit Ballgewinnen belohnt wurde. Das Umschalten nach Ballbesitz findet im Expresstempo statt. Selbst nach gegnerischen Korberfolgen wird über einen schnellen Einwurf sofort die Gegenattacke gesucht. Das erinnert an Konzepte wie „Seven seconds or less“ der Phoenix Suns vor 20 Jahren. Vor allem Franz Wagner ist dabei kaum zu stoppen. Im Halbfeldangriff geht der Ball auch gerne mal in den Post, wobei auch hier Wagner besonders beeindruckt, wenn er vom rechten Zonenrand in die Mitte attackiert und mit zwei langen Schritten und seiner linken Hand abschließt.
Ein großer Faktor ist die positionelle Variabilität dieser Mannschaft. Die kleinste Formation in der Vorbereitung bestand aus drei Guards plus Bonga und Wagner. Durch den Ausfall von Krämer erwarte ich Line-ups mit Tristan da Silva und den beiden zuvor Genannten auf den Positionen Zwei bis Vier noch häufiger als schon in den Testspielen. Am wahrscheinlichsten dürfte da Silva von einem Shooting Guard verteidigt werden, was er mit dem Rücken zum Korb ausnutzen könnte. Bonga, der einen Power Forward gegen sich haben dürfte, hat in Belgrad gelernt, im Rhythmus des Teams zu bleiben, aber punktuell seine Nadelstiche zu setzen. Und Wagner ist nur einen verlässlicheren Dreipunktewurf davon entfernt, jeder Art von Gegenspieler eine unlösbare Aufgabe zu präsentieren. Dazu kommt der defensive Vorteil, dass man mit diesen Spielern ohne Ende switchen kann.
Kochs Nachschlag
Jetzt habe ich mich fast schon in Ekstase geschrieben. Also geht es im Nachschlag darum, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Die deutsche Mannschaft hat auch Schwächen, die die Kontrahenten attackieren können. Die Center-Position ist dünn besetzt, und der schlachtenerprobte Recke Daniel Theis hat aktuell ein paar Beulen in seiner Rüstung. Die Partien gegen Spanien zeigten, dass man als gegnerisches Team gegen die DBB-Auswahl eine Zonenverteidigung zumindest in Betracht ziehen sollte. Aber das ändert nichts an meiner grundsätzlichen Einschätzung, dass die deutsche Mannschaft um die Medaillen mitspielen wird.
In meiner ersten EM-Kolumne vom Dienstag geht es um mein Dreamteam und Mumbrus Realität.

Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games.
Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei Dyn, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere, Sportdigital, DAZN und MagentaSport tätig, sowie als Scout für die NBA. Im Podcast "Talkin‘ Basketball", der auf allen gängigen Plattformen abrufbar ist, sprechen er und Oliver Dütschke regelmäßig mit Protagonisten aus der deutschen Basketballszene. Seine Kolumne zum BBL-Geschehen findet sich bei uns regelmäßig hier im News-Center rechts unter der Rubrik "Kochs Nachschlag".