Um 22:34 Uhr stehen die Uhren still. Das Horn erklingt, die Saison 2022/23 in der easyCredit BBL ist beendet. In der Arena brandet ohrenbetäubender Jubel auf. Das Team von ratiopharm ulm hat soeben die erste Deutsche Meisterschaft der Vereinsgeschichte gewonnen. Im vierten, einem abermals umkämpften Spiel einer packenden Serie gegen die Telekom Baskets Bonn setzen sich die Schwaben mit 74:70 durch, wobei ein 18:0-Lauf zu Beginn des letzten Viertels die Weichen auf Sieg stellt. Mit Yago dos Santos (25 Punkte, 8 Assists) wird erstmals ein Brasilianer zum wertvollsten Spieler der Finals gekürt.
Endstand: ratiopharm ulm (7) - Telekom Baskets Bonn (1) 3-1
Spielverlauf und Wendepunkt: Angestachelt von einer ohrenbetäubenden Atmosphäre in der ratiopharm arena kam Ulm gut aus den Startlöchern. Die Baskets brauchten zwar ein paar Minuten, fanden dann allerdings einen defensiv wie offensiv guten Rhythmus. Obwohl die Schwaben häufig den Weg an die Freiwurflinie antraten, waren es die zahlreichen Bonner Einzelaktionen, die den Gästen eine schmale Führung bescherten (21:23, 10. Minute).
Angeführt von dem mit gewohnt brasilianischer Leichtigkeit auftretenden Yago dos Santos eröffneten die #Uuulmer das zweite Viertel mit einem 20:6-Lauf, den Tuomas Iisalo selbst mit einer taktischen Auszeit nicht zu stoppen vermochte (41:29, 16. Minute). Während bei den Hausherren hauptsächlich dos Santos und Brandon Paul im Angriff abschlossen, verteilten die Bonner die offensive Last und schafften es so, bis zur Halbzeit wieder heranzukommen (43:41, 20. Minute).
Nach dem Seitenwechsel machten die Bonner defensiv da weiter, wo sie vor der Pause angefangen hatten. Coach Iisalo hatte eine Formation gefunden, die auf den kleinen Positionen variabel alle Matchups switchen und so Würfe von außen wegnehmen konnte. Daraus entwickelte sich gerade genug Momentum für die Rheinländer, um das Blatt zu wenden - die magische Zehn-Punkte-Schwelle konnte jedoch nicht geknackt werden (51:59, 30. Minute).
Doch diese Ulmer Mannschaft wäre nicht diese Ulmer Mannschaft, wenn sie nicht mit Wucht zurückschlagen könnte. Dos Santos und Co. begannen den Schlussabschnitt mit einem 18:0-Run, den die Baskets erst nach über sechs Minuten stoppten (69:59, 36. Minute). Zwar gaben sich die Bonner nie auf, verkürzten nochmals (72:67, 38. Minute), doch Yago dos Santos kontrollierte das Geschehen gekonnt, dirigierte seine Nebenleute an die entscheidenden Stellen oder schloss selbst ab. Als die Baskets in den finalen Sekunden gleich mehrfach den Anschluss verpassten, nachdem sie theoretisch hätten taktisch foulen können, lief die Uhr unweigerlich herunter; nach insgesamt zehn Führungswechseln ging die Schlusssirene im orangefarbenen Jubel unter!
Zahlen, bitte: Im Dutzend billiger! Die Ulmer trafen in der ersten Hälfte zwölf Würfe aus dem Feld, jedem ging dabei ein Pass voraus. Am Ende hatten die Ulmer bei 19 ihrer 21 Feldtreffer „assistiert“.
16 … Offensiv-Rebounds griffen sich die Baskets. Aus den vielen zweiten Chancen generierten die Rheinländer in Summe jedoch nur sieben Zähler. Die Ulmer hingegen münzten ihre sieben Offensiv-Rebounds mustergültig in 13 Punkte um.
Duell im Fokus: Yago dos Santos vs. TJ Shorts … oder: Dominatoren unter sich. Es war DAS Kräftemessen auf der Eins, das die Serie bestimmte. Hauptrunden-MVP Shorts stemmte sich nochmals mit 19 Punkten, acht Rebounds und sechs Assists gegen die Niederlage, doch war es an dos Santos, der insgesamt mehr Einfluss auf diese vierte Partie nahm. Mit 25 Punkten und acht Assists schrammte der Brasilianer nur knapp an einem Double-Double vorbei.
Erstmals ein brasilianischer Finals-MVP: Der Finals-MVP wird seit 2005 geehrt, und in diesem Jahr ist es mit Yago dos Santos erstmals ein Profi aus Brasilien, aber nicht das erste Mal ein Spieler aus Südamerika, denn 2021 wurde in Berlins Jayson Granger bereits ein Profi aus Uruguay als wertvollster Spieler der Finals ausgezeichnet. Ulms Headcoach Anton Gavel war 2013 der erste Finals-MVP mit deutschem Pass. Nach ihm folgten noch Danilo Barthel (2018), Nihad Djedovic (2019) und Johannes Thiemann 2022. Elfmal ging die Auszeichnung an einen US-Profi und 2017 an den zuletzt bei Real Madrid spielenden Franzosen Fabien Causeur (hier die komplette Award-Übersicht).
Wahre Worte: „Wir haben genau zur richtigen Zeit, zu den Playoffs unser Momentum gehabt, das uns bis hierher getragen hat. Am Ende können wir sicherlich sagen, dass diese Meisterschaft, so wie sie zustande kam, auch berechtigt ist“, analysierte Anton Gavel anschließend gewohnt nüchtern. „Für so viele von uns, im Verein und in unserem Umfeld ist es der erste Titel. Dieser Sieg ist auch für Andi Klee, der leider nicht mehr unter uns weilt.“
Apropos: Gavel. Der 38-Jährige befindet sich schon jetzt in elitärer Gesellschaft. Während des letzten Vierteljahrhunderts gelang es außer ihm nur noch Sasa Obradovic sowohl als Trainer (2006, Köln) als auch als Spieler (1997, Berlin) die Deutsche Meisterschaft zu gewinnen.
Auch Tuomas Iisalo zollte dem neuen Meister seinen Respekt: „Wenn du in den Playoffs die drei besten Mannschaften der Hauptrunde schlägst, hast du den Titel auch verdient“, sagte der Finne. „Für uns ist es natürlich wahnsinnig enttäuschend, denn ich glaube, dass wir auch in dieser Serie eine Chance hatten. Für mich als Trainer ist es insgesamt bitter-süß, denn wir konnten unseren Champions League-Titel gar nicht richtig feiern - das werden wir jetzt nachholen.“
Historisch wertvoll: Der Gewinn der Deutschen Meisterschaft 2023 ist natürlich der größte Erfolg in der bewegten Geschichte des Ulmer Basketballs. 1988 als SSV Ulm aufgestiegen in die erste Liga, 1996 als SSV ratiopharm Ulm der sensationelle Pokalsieg der legendären Mannschaft um Jarvis Walker und Mike Knörr, die beide ihre komplette Profikarriere in Ulm verbrachten. Nach dem Abstieg 2001 sowie der Insolvenz und der Neugründung unter dem Namen ratiopharm ulm folgte 2006 der Wiederaufstieg in die erste Liga. 2009 stand man erstmals wieder in den Playoffs (0-3 im Viertelfinale gegen Bonn), erreichte 2012 und 2016 das Finale gegen Bamberg (es gab allerdings wie bereits 1998 gegen Berlin zweimal einen 0:3-Sweep) sowie 2013 und 2014 das Pokalfinale, was jeweils gegen Berlin verloren wurde. Und nun nach einem 0:5-Start in die BBL-Saison als Siebter der Hauptrunde diese einzigartige erste Meisterschaft. Und dabei besiegte der Champion erstmals in der 56-jährigen BBL-Geschichte den Ersten, Zweiten und Dritten der Hauptrunde.
Die 15 Deutschen Meister der Ligahistorie: Seit der Gründung der Liga zur Saison 1966/67 ist ratiopharm ulm damit der 15. Klub, der eine Deutsche Meisterschaft feiern kann (die Details im Überblick): TSV Bayer 04 Leverkusen (14 Meisterschaften), ALBA BERLIN (11), Brose Bamberg (9), MTV Gießen (4), BSC Saturn Köln (4), ASC 46 Göttingen (3), FC Bayern München (3), USC Heidelberg (2), VfL Osnabrück (1), SSV Hagen (1), Steiner Bayreuth (1), OPEL SKYLINERS, Frankfurt (1), RheinEnergie Köln (1), EWE Baskets Oldenburg (1), ratiopharm ulm (1).
Es ist außerdem das sechste Mal in diesem Jahrtausend, dass ein Klub das erste Mal in der BBL-Geschichte Deutscher Meister wird: 2004 Frankfurt, 2005 Bamberg, 2006 RheinEnergy Cologne (BSC Saturn Köln war ein anderer Verein), 2009 Oldenburg, 2014 München (die beiden Meisterschaften 1954 und 1955 waren vor der Gründung der Bundesliga).
Einsamer Rekord: Sechs Mal Vize, aber noch nie Meister - dies ist ein einsamer Rekord der Telekom Baskets Bonn. Sie standen neben den drei verlorenen Pokalendspielen (2005, 2009, 2012) sechs Mal im Finale um die Deutsche Meisterschaft (1997, 1999, 2001, 2008, 2009, 2023), aber verloren jedes Mal. Wie bitter das ist, zeigt die Tatsache, dass es in der 56-jährigen BBL-Historie nur drei weitere Klubs gibt, die mal im Finale standen, aber noch nie Deutscher Meister waren – und diese drei Teams mussten das allerdings auch nur einmal erleiden:
Die Artland Dragons aus Quakenbrück 2007 (1-3 gegen Bamberg) und die MHP RIESEN Ludwigsburg 2020 („Hin- und Rückspiel“ des Final-Turniers gegen Berlin verloren) sowie vor den Playoffs 1971 der USC München, der in Hin- und Rückspiel (85:78 und 51:80) Leverkusen unterlag.
Alle anderen Klubs, die das Finale erreichten, holten irgendwann halt auch mal die Meisterschaft. Wobei gerade in der jüngeren Geschichte drei Klubs auch einige Anläufe brauchten. Berlin verlor fünf Finalserien vor dem ersten Titel (1996, 1995, 1992 sowie 1991 und 1985 als DTV bzw. BG Charlottenburg), je drei Mal verloren Bamberg (2004, 2003, 1993) und Ulm (2016, 2012, 1998).
Das Bonner Leid erinnert natürlich an den nur knappe 50 Kilometer entfernten Fußballklub Bayer 04 Leverkusen, der in der Fußball-Bundesliga fünf Mal Vizemeister (1997, 1999, 2000, 2002, 2011), sechs Mal Dritter (1994, 1998, 2004, 2013, 2016, 2022), aber noch nie Deutscher Meister war. Genau wie Bonn dieses Jahr konnte Leverkusen dafür aber 1988 mit dem UEFA-Cup einen Europokal gewinnen.
Was wir bisher gelernt haben: Freud und Leiden liegen oftmals eng beieinander. Oder im Falle der Baskets nur 33 Tage. Das ist die Zeitspanne zwischen dem Gewinn der Basketball Champions League und der Niederlage im vierten Finalspiel.
Der Pechvogel: Echt jetzt?! Im ersten Jahr nach Per Günthers Karriereende holt sein Ulmer Klub die Meisterschaft? Speedy Günzalez stand in seinen 14 Jahren mit Ulm zwei Mal im Finale um die Meisterschaft (2012, 2016) und zwei Mal im Pokalfinale (2013, 2014), aber ein Titel blieb der Ulmer Klub-Ikone verwehrt. Dieses monumentale Pech erinnert an Derrick Allen, der in seinen 15 Jahren in Deutschland 2010 mit Frankfurt und 2011 mit Berlin jeweils in Bamberg Vizemeister wurde, weil das fünfte Finale in den Schlusssekunden noch verloren ging (2010 mit 72:70, 2011 mit 72:65).
Sonstiges: Erstmals seit 2009, also seit 13 Jahren, ist ein Klub Deutscher Meister, der nicht aus Bamberg, München oder Berlin kommt. Damals gewann Oldenburg in einer der dramatischsten Serien der jüngeren Historie mit 2:3 gegen … richtig: Bonn.
Die Deutschen: Sebastian Herrera markierte von der Bank kommend starke zwölf Zähler - allesamt vor der Pause. Beim neuen Meister kam Robin Christen auf acht Punkte.
Am Rande der Bande: ...saßen 6.000 Zuschauer.
Wie geht’s weiter: Macht euch locker, genießt die Offseason. Dank der Damen-Europameisterschaft als auch der Herren-Weltmeisterschaft wird sich die Basketball-freie Zeit allerdings im Rahmen halten.
Video: Highlights zu dieser Partie gibt es hier oben rechts unter dem Punkt „Video“ oder hier bei MAGENTA SPORT.