– Stefan Koch
Die Vizemeisterschaft beim Final-Turnier 2020 galt als Überraschung. Dann folgte der personelle Aderlass … und ein Vereinsrekord, fast sicher inklusive der Tabellenführung nach der Hauptrunde. Deshalb hier nun mein Loblied auf eine herausragende Ludwigsburger Saison.
Die aktuell 28 Siege sind schon Vereinsrekord. Sollte am Freitagabend in Bamberg ein weiterer Erfolg hinzukommen, wäre die Pole Position für die Playoffs schon vier Spieltage vor dem Hauptrundenabschluss gesichert. Die MHP RIESEN Ludwigsburg dominieren sensationell die Liga und rangieren vor den Euroleague-Teams aus Berlin und München. Nachdem die Schwaben in der vergangenen Spielzeit beim Finalturnier in München überraschend die Vize-Meisterschaft errungen hatten, wurde dieser Erfolg wohlwollend anerkannt, aber gleichzeitig auch vermutet, dass die Barockstädter angesichts ihres personellen Aderlasses (die vier besten Scorer verließen den Club) wohl kaum in der Lage sein dürften in der Saison 2020/2021 daran anzuknüpfen. Weit gefehlt, das Gegenteil ist der Fall!
Alte Tugenden
Alte Tugenden bilden die Grundlage dafür, dass die Mannschaft von John Patrick auch in dieser Spielzeit deutlich über den Erwartungen liegt. Der 53-jährige Amerikaner setzt nun schon seit eineinhalb Jahrzehnten auf einen Stil, in dem physische und mentale Härte die tragenden Säulen darstellen, die Spielweise von Yorman Polas Bartolo ist nur ein Beispiel dafür (Video rechts). Über aggressive Verteidigung und Rebounding sollen zusätzliche Ballbesitze generiert werden. Das funktioniert wieder blendend. Die Ludwigsburger sind bei den Steals (8,1) die zweitbeste Mannschaft der Liga, leisten sich selbst aber eine schlanke Ballverlustquote von 14,6 Prozent, die den Ligabestwert darstellt. Dazu kommt eine Offensivrebound-Quote von 33,1 Prozent, Ligaspitze! In Summe führt dies dazu, dass der Tabellenführer die meisten Würfe (67,3) aller Mannschaften nimmt. Aufgrund dessen kann man auch die schwächste Feldwurfquote (46,9 Prozent) aller Teams auf den Playoff-Plätzen wegstecken und trotzdem die zweitmeisten Punkte (89,2) im Wettbewerb erzielen.
Das Angriffsspiel ist relativ einfach konstruiert. Die Ballgewinne sollen durch Tempobasketball in Punkte umgemünzt werden, und im Halbfeld möchte man mit überschaubarer Struktur individuelle Vorteile ausnutzen. Lediglich Bonn bereitet weniger Körbe mit einem Assist vor. Dabei präferieren die „Riesen“ kleine Aufstellungen. Nur drei Spieler im Kader verfügen über das Gardemaß von zwei Metern oder mehr.
Offensiv und defensiv top
So viel zu den altbewährten Strategien. Aber es hat sich auch etwas geändert im Basketball von John Patrick. Es wird kolportiert, dass der Ludwigsburger Übungsleiter vor ein paar Jahren einmal gesagt haben soll, dass der Dreipunktewurf überbewertet sei. Ganz offensichtlich hat er seine Meinung geändert! Der Tabellenführer nimmt die meisten Dreipunktewürfe der Liga mit 30,3 pro Spiel. Aber zuletzt hat sich diese Tendenz noch deutlich verstärkt: 35,3 Dreierversuche stehen in den vergangenen elf Partien zu Buche!
Entscheidend ist aber, dass man auch bei den wichtigsten Statistiken weit oben auftaucht. Der Angriff ist mit 119,3 Punkten pro 100 Ballbesitze der drittbeste, die Verteidigung mit 103,5 Punkten sogar die zweitbeste. Damit sind die Ludwigsburger die einzige Mannschaft, die offensiv und defensiv Top-Drei-Status innehat.
Zur Person:
Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games. Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei MagentaSport, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere und Sportdigital tätig, sowie als Scout für die NBA. Seine Kolumne „Kochs Nachschlag“ erscheint regelmäßig auf der Homepage der easyCredit BBL. Außerdem produziert er gemeinsam mit Oliver Dütschke im Zweiwochentakt den Podcast „Talkin‘ Basketball“, der auf allen gängigen Plattformen abrufbar ist.
Das Personal
Klar, Jaleen Smith spielt eine herausragende Saison (Video rechts) und Jordan Hulls ist seine ideale Ergänzung im Backcourt. Aber es gibt weitere Stützpfeiler. Mit Yorman Polas Bartolo (35), und dem ältesten Akteur der Bundesliga, Tremmell Darden (39), standen zwei Routiniers bislang in jeder Partie, die sie bestritten, in der Startformation. Aber die beiden Vorzeigeprofis sind nicht nur wichtige Leistungsträger, sie dienen auch als Vorbilder. Schon während des Finalturniers in München im vergangenen Sommer wurde auch einer breiteren Öffentlichkeit deutlich, dass John Patrick mittlerweile stärker auf junge deutsche Spieler setzt. Dazu gehören auch zwei seiner Söhne, der 17-jährige Jacob, der schon in München für Furore sorgte, und der 19-Jährige Johannes, der am Dienstag beim 106:69 gegen Frankfurt mit zwölf Punkten (4/4 Dreier) und drei Assists glänzte.
Ein Teil der Erfolgsgeschichte ist auch, dass es die Schwaben nicht aus der Bahn warf, als ihr zweitbester Spieler die Mannschaft verließ. Nachdem Elias Harris zum Jahreswechsel seine Ausstiegsoption genutzt hatte, blieben die Ludwigsburger auch ohne den ehemaligen Nationalspieler auf Kurs. Die Verantwortlichen handelten nicht überhastet und tätigten noch zwei Nachverpflichtungen: Jamel McLean als Harris-Ersatz und Oscar da Silva Ende März als Sahnehäubchen, das für die Playoffs zusätzliche Tiefe garantiert.
Kochs Nachschlag
Auch wenn an den beiden abschließenden Spieltagen noch die Rückrundenspiele gegen die Euroleague-Clubs Berlin (04. Mai) und München (09. Mai) anstehen, lässt sich trotzdem bereits bilanzieren, dass Ludwigsburg in dieser schwierigen Corona-Zeit eine großartige Saison gespielt hat – was sich auch bei den Award-Verleihungen niederschlagen dürfte. Da ich über Jaleen Smith und Yorman Polas Bartolo, die zu den Top-Kandidaten für den MVP und den besten Defensivspieler zählen, schon geschrieben habe, darf ich jetzt einen dritten heißen Anwärter nennen.
Nachdem es in der vergangenen Saison keinen Trainer des Jahres gab, was vermutlich Tuomas Iisalo den Titel kostete, sehe für die Spielzeit 2020/2021 den gleichen Dreikampf um die Krone wie im Jahr zuvor. Nur dass jetzt John Patrick derjenige ist, dem ich einen leichten Vorteil gegenüber Iisalo und Hamburgs Pedro Calles zugestehe.