– Stefan Koch
Warum spricht wieder niemand über Oldenburg, wenn es um Titelkandidaten geht? In den Diskussionen dominiert das Klischee der netten Familienmannschaft, aber die Donnervögel haben die beste Offense der Liga und dieser wilden Saison mehr Konstanz in der Rotation als jeder andere Klub.
München und Berlin – natürlich sind die beiden Euroleague-Teilnehmer die Topfavoriten auf den Gewinn der Deutschen Meisterschaft. Doch es gibt zwei Mannschaften, die den Platzhirschen gefährlich werden könnten. Mit dem sensationell starken Tabellenführer MHP RIESEN Ludwigsburg und den EWE Baskets Oldenburg als Offensivmaschine aus dem Norden wird das das Spitzenquartett abgerundet von zwei Mannschaften, die bislang eine beachtliche Qualität bewiesen haben.
Dennoch traut es Basketball-Deutschland beiden Teams nicht zu, eine Serie gegen die Bayern oder die Albatrosse zu gewinnen. Ein Spiel – okay, aber ein Playoff-Duell im Modus Best of Five – eher nicht. Und in diesem Nachschlag möchte ich besprechen, wo die Knackpunkte bei den Oldenburgern liegen. Damit soll aber nicht suggeriert werden, dass die Niedersachsen mit dem Anspruch auf den Titelgewinn unterwegs sein sollten, denn sie verfügen nicht über die gleichen Ressourcen wie die Meister der letzten Jahre. Aber sie sind zumindest eines der wenigen Teams, die vor der Saison ihren Kader signifikant verstärkt haben. Neben Aufbau Phil Pressey und Scharfschütze Keith Hornsby sind vor allem auf den einheimischen Spots Sebastian Herrera und Martin Breunig ein Upgrade zu Robin Amaize und Marcel Keßen aus dem Vorjahr.
Und wenn 2019/20 doch einige Spieler früher gingen oder später kamen (Gerry Blakes, Kevin McClain, Ian Hummer, Armani Moore, Justin Sears, Filip Stanic), was immer Unruhe ins Team bringen kann, so sieht es diese Saison komplett anders aus: Aus der festen Zehnerrotation absolvierten bis auf den derzeit verletzten Nathan Boothe (zwei Spiele verpasst) und Hornsby (1) bisher alle Profis alle 24 Partien. Und was Konstanz in dieser außergewöhnlichen Saison bedeutet, muss niemandem erklärt werden. Aus diesen Gründen lohnt es sich erneut, einen genaueren Blick auf das Team des Klubs zu werfen, der bereits zwei Titel in der Vita hat (Deutscher Meister 2009, Pokalsieger 2015.
Der beste Angriff der Liga
Satte 93,3 Punkte legen die Oldenburger pro Partie auf. Das sind 5,3 mehr als Bayern München auf dem zweiten Platz. Genauso beeindruckend sind auch die Quoten, die die Schützlinge von Mladen Drijencic werfen: Die 58,8 Prozent aus dem Zweierbereich sind nur hauchdünn der zweitbeste Wert hinter Brose Bamberg (58,9 Prozent). Bei den Dreiern treffen Rickey Paulding und Co. mit 41,6 Prozent als einziges Team mehr als 40 Prozent. Das bedeutet summa summarum natürlich auch die beste Feldwurfquote der Liga mit 51,4 Prozent. Die starken 84,2 Prozent bei den Freiwürfen werden nur von ratiopharm ulm übertroffen. Bei den Assists (hinter Berlin) und Ballverlusten (hinter Ludwigsburg) ist man jeweils nur hauchdünn Zweiter, was aber im ligaweit besten Assist-Turnover-Ratio von 2:1 mündet.
Sezieren wir diese Daten mit Blick auf die einzelnen Spieler, so fällt auf, dass der beste Passgeber Phil Pressey (nur) vier Vorlagen pro Partie produziert, was dafürspricht, dass der Ball durch viele Hände geht und eine uneigennützige Mentalität herrscht. Dazu kommt, dass die Mannschaft über ein großes Angebot an guten Werfern verfügt, auch wenn zum Beispiel ein Sebastian Herrera mit einer Dreierquote von 29,4 Prozent bislang unter seinen Möglichkeiten geblieben ist. Aber mit Nathan Boothe und Philipp Schwethelm stehen zwei exzellente Stretch-Vierer im Kader, wobei Boothe auch noch als Stretch-Fünf agieren kann und in dieser Rolle fast ein Alleinstellungsmerkmal in der Liga hat. Evergreen Rickey Paulding kann immer noch die Big Shots machen, Braydon Hobbs trifft aus zum Teil wahnwitzigen Entfernungen seine Dreier (Quote 47,1 Prozent) und Neuzugang Keith Hornsby ist mit 53,4 Prozent bei fünf Versuchen von jenseits der 6,75-Meter-Linie der ungekrönte Dreierkönig der Liga.
Wo könnte es in den Playoffs hapern?
Vor zwei Jahren habe ich im Nachschlag über Oldenburg vor den Playoffs die fehlende Tiefe als größtes Problem ausgemacht. Mittlerweile ist der Kader auf jeder Position auf gutem Niveau doppelt besetzt. Jetzt stellt sich eher die Frage, ob die Baskets es schaffen können, defensiv in der Postseason eine Schippe draufzulegen. Mit dem 32-jährigen Karsten Tadda ist der einzige echte Kettenhund ein wenig in die Jahre gekommen. Sicherlich sind die Akteure aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Spielverständnisses in der Lage, defensive Situationen im Teamverband zu lösen, dennoch könnte sich die Defensive aufgrund des Mangels an starken individuellen Verteidigern als eine Schwachstelle entpuppen.
Ebenso stellt sich die Frage nach der physischen und mentalen Härte. Während die Oldenburger gegen Berlin und München gleichwertig wirkten und jeweils auch ein Spiel gewannen (100:95 gegen München und 89:81 in Berlin), unterlagen sie gegen Ludwigsburg, wo diese Tugenden besonders gefordert sind, mit 75:89 und 87:98 beide Male zweistellig (siehe die vier Videos oben). Da kommt das abgedroschene Klischee der netten Familienmannschaft aus der norddeutschen Provinz wieder zum Vorschein. Braucht man einen Typen wie Chris Ensminger oder Vladimir Lucic, um Meister zu werden?
Kochs Nachschlag
Nein, Berlin hat es im letzten Jahr auch ohne einen solchen Spieler geschafft. Ich erwähne dies, weil mich die Oldenburger ein wenig an die Albatrosse in den Jahren vor dem Double 2020 erinnern. Auch den Berlinern wurde damals vorgeworfen, in Schönheit zu sterben. Natürlich: Berlin und München bleiben mit ihren Topkadern die Favoriten, Ludwigsburg verfügt über die beste Bilanz der Liga und hat die Baskets zwei Mal geschlagen. Dazu kommen die beschriebenen Fragezeichen bei den Oldenburgern. Nichtsdestotrotz sind sie für mich näher an der Spitze dran, als es viele Skeptiker wahrhaben möchten.
Zur Person
Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games.
Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei MagentaSport, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere und Sportdigital tätig, sowie als Scout für die NBA. Seine Kolumne „Kochs Nachschlag“ erscheint regelmäßig auf der Homepage der easyCredit BBL. Außerdem produziert er gemeinsam mit Oliver Dütschke im Zweiwochentakt den Podcast „Talkin‘ Basketball“, der auf allen gängigen Plattformen abrufbar ist.