– Stefan Koch
Warum ist Crailsheim trotz Personalwechsel erneut das Überraschungsteam der Liga? Nun ja, weil bei den Merlins über einen kurzen Entscheidungszeitraum für die Spieler eine hohe Handlungsgeschwindigkeit erreicht wird, was zu einer guten Ballzirkulation führt. Oder anders gesagt: Weil Tuomas Iisalo ein außergewöhnlich innovativer Trainer ist.
In der vergangenen Spielzeit waren die HAKRO Merlins Crailsheim die Überraschungsmannschaft der Liga und lagen bei Saisonabbruch trotz ihres kleines Etats auf dem dritten Platz. In dieser Saison schreiben die Hohenloher ihre Cinderella-Geschichte weiter. Obwohl sie fast alle Leistungsträger des Vorjahresteams abgeben mussten, bestechen die Crailsheimer mit attraktivem Basketball und haben die Playoffs so gut wie in der Tasche. Am vergangenen Wochenende fügten Trae Bell-Haynes und Co. dem Spitzenreiter Ludwigsburg mit 68:58 die zweite Saisonniederlage zu (Video rechts), die sie aber mit dem Saisonaus von Haywood Highsmith (Bänderriss im Ellenbogen) teuer bezahlen mussten. Am Sonntag um 18 Uhr empfängt der Tabellenvierte das Euroleague-Schwergewicht Bayern München. Wir erinnern uns: Die Hinrunden-Partie gewannen die Merlins 105:103 in dramatischer Manier (Video unten) – und verloren leider wie gegen Ludwigsburg mit Tim Coleman einen wichtigen Spieler durch eine schwere Verletzung!
Ich möchte in diesem Nachschlag die Konzepte und Ideen beleuchten, die als Basis der Crailsheimer Erfolge dienen. Dabei steht der Mann im Fokus, der als treibende Kraft und Mastermind fungiert.
Liebe zur Weisheit
Wer Tuomas Iisalo lauscht, wenn er über Basketball spricht, sollte genau zuhören, auf die Zwischentöne achten und keine Nuance verpassen. Der finnische Trainer des Bundesligisten HAKRO Merlins Crailsheim betrachtet das Spiel auf eine differenzierte Art und Weise, wie es nur wenige Vertreter seiner Zunft tun. Mit dem Begriff „Philosophie“ wird gerade im Basketball sehr freizügig umgegangen, ohne sich des Kerns des Wortes bewusst zu werden. Aber den 38-Jährigen treibt wirklich die Liebe zur Weisheit an. Sowohl Basketball als auch Coaching auf einem höheren Niveau zu verstehen, formuliert er als seine wichtigsten beruflichen Ziele. Dafür ist er bereit, auch Ideen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen und Sportarten in seine Arbeit einfließen zu lassen. So entsteht eine außergewöhnliche Herangehensweise, die Iisalo zu einem der interessantesten Coaches in Europa macht.
Handlungsgeschwindigkeit
In den Mittelpunkt seines Konzepts stellt er die in den Ballsportarten immer wichtiger werdende Handlungsgeschwindigkeit, die er offensiv und defensiv als den entscheidenden Faktor sieht. Im Angriff geht es bei den Crailsheimern immer darum, einen erarbeiteten Vorteil zu behalten oder auszubauen. Um das sicherzustellen, lässt der Coach seinen Spielern einen Entscheidungszeitraum von maximal einer halben Sekunde. Die Terminologie lautet .5, und diese Zeitspanne beginnt, wenn ein Spieler den Ball fängt. Vor allem in der vergangenen Spielzeit generierten die Crailsheimer so eine Ballzirkulation, die an den bezaubernden Bamberger Basketball der Trinchieri-Ära erinnerte (Video rechts).
„Gewohnheiten beschleunigen, Taktiken verlangsamen“, so lautet eine seiner wichtigsten Aussagen. Wird ein erarbeiteter Vorteil wieder abgegeben, muss quasi von vorne begonnen werden, aber mit der Hypothek, dass deutlich weniger Zeit auf der Shotclock zur Verfügung steht.
Häufig versuchen die Merlins mit einem Blocken und Abrollen zwischen dem Spielmacher und dem Center, eine erste Vorteilssituation zu erspielen. Bogdan Radosavljevic ist dabei der primäre Pick-and-Roll-Partner für Trae Bell-Haynes. Mit seiner Fähigkeit, den Dreier zu werfen, schafft „Boggy“ Raum für den Kanadier, der dann die Verteidigung ins Rotieren bringt (im Video rechts einige Beispiele).
Fehler als Grundlage von Verbesserung
„Anstrengung ist wichtiger als Wiederholung“ – ein weiterer bemerkenswerter Satz und das Credo der Trainingsarbeit. „Wir zwingen die Spieler in ein Tempo, das ihnen Probleme bereitet“, erklärt Iisalo. So ist es nur verständlich, dass seine Schützlinge Fehler begehen. Die dienen aber als Grundlage für Verbesserung. Wer schnell entscheiden kann, lernt mit der Zeit, auch unter Druck richtig zu entscheiden. Wer aber zunächst lernt, die richtige Entscheidung zu treffen, hat es deutlich schwerer, dann auch schnell zu entscheiden. So gibt es im Training die Regel, dass die Offensivmannschaft automatisch den Ball verliert, wenn eine Entscheidung nicht innerhalb von einer halben Sekunde getroffen wird.
Kochs Nachschlag
Tuomas Iisalo ist der Vater der Crailsheimer Erfolgsgeschichte. Längst sind besser betuchte Clubs auf dieses außergewöhnliche Trainertalent aufmerksam geworden. Kurz nach seiner Vertragsverlängerung im Sommer fragte mit dem litauischen Aushängeschild Zalgiris Kaunas ein Verein der europäischen Königsklasse an. Über seine Zukunft macht sich Iisalo, der seit März 2016 in Crailsheim arbeitet, keine großen Gedanken. Für ihn ist auch wichtig, dass die Familie zusammenbleiben kann, sich seine Frau und seine drei Kinder wohlfühlen. Dennoch wäre es eine Riesenüberraschung, wenn er über sein Vertragsende hinaus bei den Merlins bleiben würde. Zu groß sind die Begehrlichkeiten, die er geweckt hat.
Zur Person
Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games.
Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei MagentaSport, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere und Sportdigital tätig, sowie als Scout für die NBA. Seine Kolumne „Kochs Nachschlag“ erscheint regelmäßig auf der Homepage der easyCredit BBL.