– Stefan Koch
Vier Jahre sind ein Zeitraum, den man normalerweise als zu kurz bemessen erachtet, um ihn mit dem Etikett „Ära“ zu versehen. Im Falle der vier Jahre, die Alejandro García Reneses, den alle Welt besser unter seinem Kosenamen Aíto kennt, als Head Coach bei ALBA BERLIN verbracht hat, wäre ein Verzicht auf dieses Prädikat aber eine unzulässige Untertreibung.
Der mittlerweile 74-jährige Spanier hat mit seiner ganz persönlichen Interpretation des einzig wahren Hallensports dem deutschen Basketball Impulse gegeben, die hoffentlich noch lange spürbar bleiben werden. Der konzeptionelle Ansatz und die Schönheit des Berliner Spiels sorgten dafür, dass die Albatrosse auch außerhalb der Hauptstadt Fans in einem vorher nicht gekannten Maße begeistern konnten. Das ist in erster Linie Aítos Verdienst, genauso wie die Förderung junger Talente und das Erreichen aller acht nationalen Finals in seiner Amtszeit. Dazu kommt, dass uns der Mensch Aíto in gleichem Maße beeindrucken konnte, indem er uns mit seiner ruhigen und unaufgeregten Art verdeutlichte, wo der Sport im Gesamtkontext des Lebens eingeordnet werden sollte.
Spielidee
Ich möchte es gerne mit einem biblischen Bild verdeutlichen: Aíto gibt den Spielern keine Fische, sondern Angeln. Auf den Basketball übertragen bedeutet dies, dass der gebürtige Madrilene keine starren Systeme vorgibt. Stattdessen setzt er einen Rahmen, in dem die Spieler ihre Fähigkeiten einbringen können und sollen. Aíto ist ein klassischer Lehrer, der seine Schüler darin unterrichtet, Situationen zu erkennen und entsprechend zu handeln. „Read and react“ nennt man das im Neudeutschen. Es geht dabei auch um die hohe Kunst der Improvisation. Aíto unterrichtet, wie die Instrumente gespielt werden. Er komponiert aber keine Stücke, sondern lässt seine Band zu einer Jamsession zusammenkommen, bei der die Spielfreude im Vordergrund steht.
Talentförderung
Der Ruf eines riesigen Talentförderers eilte Aíto schon voraus, bevor er in Berlin unterschrieb. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren gegen ihn in der Euroleague coachte, gehörten mit Juan Carlos Navarro und Pau Gasol zwei Teenager bereits zu den Leistungsträger in Barcelona. Der Mut und die Fähigkeit, junge Spieler zu entwickeln, war sicherlich ein ganz wichtiger Faktor für die Berliner Verantwortlichen, den damals 70-Jährigen 2017 in die deutsche Hauptstadt zu lotsen. Mich beeindruckt dabei am meisten, dass er sich nicht scheut, den Youngstern auch in knappen Partien in der Crunchtime das Vertrauen zu schenken. Während viele Coaches dem Nachwuchs in solchen Momenten den Platz auf der Bank zuweisen, besteht bei Aíto die Möglichkeit unfassbar wichtige Erfahrungen zu sammeln. Dafür muss ein Trainer tolerant gegenüber möglichen Fehlern sein. Das ist Aíto, und er schließt hier die Klammer zu seiner grundsätzlichen Spielidee, die genau dies auch erfordert.
Drei Titel
Aíto verlässt Berlin auf dem Höhepunkt, nach drei Titeln, davon zwei Meisterschaften, in den vergangenen beiden Saisons. Aber zu Beginn seiner Tätigkeit in Berlin wurde angezweifelt, ob der „schöne Basketball“ auch trophäentauglich sei. In seinen ersten beiden Spielzeiten verlor der Spanier fünf Finals, je zwei um die Deutsche Meisterschaft und den Deutschen Pokal sowie das Eurocup-Finale gegen Valencia. Kritiker kolportierten manchmal mehr als nur unterschwellig, dass ALBA in Schönheit stürbe, während die Konkurrenz das Prinzip des Profisports als ergebnisabhängiges Geschäft besser verstanden habe. Umso schöner ist es, dass Aíto diese Aussagen widerlegt hat. Spielfreude und attraktiver Basketball stehen Erfolgen nicht im Wege – ganz im Gegenteil!
Kochs Nachschlag
Aíto ist ein vielschichtig interessierter Mensch. Seine Vogelfotografien, die er bei Instagram einstellt, haben Kultstatus erlangt. Gut möglich, dass er sich jetzt noch mehr diesem Hobby widmen wird. Nach vier Jahren, von denen vor allem die beiden letzten als Euroleague-Saisons in Pandemiezeiten extrem stressig waren, hat sich der Grandseigneur seine Auszeit mehr als verdient. Es ist bewundernswert, wie der 74-Jährige die Belastungen inklusive einer Corona-Infektion weggesteckt hat.
Ich werde Aíto vermissen. Er ist ein Coach, der sich selbst zurücknimmt, um den Spielern die Bühne zu überlassen. Auch dies ist eine Hinterlassenschaft für junge Trainer. Sein Ansatz, wie ein Coach Einfluss auf die Spieler und das Spiel nehmen sollte, muss ebenso präsent bleiben.
Es wäre wundervoll, wenn er im Sommer 2022 auf die Trainerbank zurückkehren würde, um Trainerkollegen, Spieler und Fans erneut zu inspirieren. Falls er sich dagegen entscheidet, kann es ihm niemand verdenken.
Danke Aíto und alles Gute – egal wie deine Pläne aussehen mögen!