– Stefan Koch
Warum haben die Bayern es als erstes deutsches Team in die Playoffs der Euroleague geschafft? Meiner Meinung nach durch das vorausschauende Coaching von Andrea Trinchieri und durch die gut kalkulierten Risiken, welche sie mit Wade Baldwin und Jalen Reynolds eingegangen sind.
Die heutige letzte Partie der Euroleage-Hauptrunde beim FC Barcelona (ab 20:45 Uhr live bei MagentaSport) ist für den FC Bayern München zwar kein reines Schaulaufen, denn schließlich ist für das Team zwischen dem vierten und dem achten Platz noch alles möglich, aber nach dem 71:70-Herzschlagfinale gegen Zalgiris Kaunas am Donnerstag vergangener Woche (Video rechts) ist keinerlei Druck mehr vorhanden. Denn damit gelang dem FC Bayern München der Einzug in die Playoffs der Euroleague. Ein historischer Erfolg für den deutschen Basketball, der höchsten Respekt verdient. Vor der Saison hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass die Mannschaft von Andrea Trinchieri in die Postseason einzieht. Deshalb möchte ich vor der Partie beim Tabellenführer Barca einmal analysieren, warum die Bayern es geschafft haben, eine solch starke Saison in Europas Eliteliga zu absolvieren.
Headcoach Andrea Trinchieri
Ja, Andrea Trinchieri hat seine Emotionen im Umgang mit den Schiedsrichtern nicht immer im Griff, aber: Sein Coaching hat er jederzeit unter Kontrolle. Die Bayern lagen in 17 der 33 Hauptrunden-Partien nach der ersten Halbzeit zurück – und der Italiener verfiel deswegen nie in Panik. Zu Zeitpunkten, an denen andere Coaches längst aus dem Druck heraus, handeln zu müssen, Veränderungen vorgenommen hätten, blieb er ruhig und erst einmal in der Beobachterrolle. Anstatt überstürzt zu reagieren, zog es Trinchieri vor, sich ein umfassendes Bild zu verschaffen. Ebenso wenig wie sein Handeln einem Zeitdruck unterlag, galt dies für seine Maßnahmen. Während viele Trainer auf Veränderungen setzen, mit denen sie hoffen, Rückstände kurzfristig aufholen zu können, hatte der 52-Jährige immer die Wirksamkeit seiner Ideen für die gesamte Spielzeit im Auge. Er setzte auf Entwicklung und behielt damit fast immer Recht.
Neun Spiele, in denen sie zur Halbzeit noch nicht in Führung lagen, gewannen die Bayern am Ende. Absolut herausragend war der Auswärtssieg bei Fenerbahce Istanbul, als das Team nach einem 7:28-Fehlstart noch zurückkam und 71:75 gewann (Video oben). Die Spiele, in denen Trinchieri vorzeitig seinen Platz am Spielfeldrand räumen musste, nahmen keine gute Wendung. Auch die Bundesliganiederlage am vergangenen Wochenende, als der Maestro in Gießen nicht vor Ort war, zeigt, wie wichtig Trinchieris Gamecoaching für die Münchner ist.
Lucic, Baldwin, Reynolds
Vladimir Lucic ist ohne Zweifel der Leitwolf dieser Mannschaft. Seine mentale Härte und seine Nervenstärke in der Crunchtime verschaffen ihm das Gütesiegel „Winner-Typ“. Gegen Kaunas machte er am Ende sowohl offensiv als auch defensiv das entscheidende Play. Zudem wirft er über die gesamte Euroleague-Saison starke Quoten (60,2 Prozent Zweier, 44,1 Prozent Dreier, 86,7 Prozent Freiwürfe). Nicht umsonst ist er der einzige Spieler, der in jedem Spiel, für das er verfügbar war, in der Startformation stand.
Die beiden anderen wichtigsten Puzzleteile (und zusammen mit Lucic besten Scorer Münchens), Jalen Reynolds und Wade Baldwin IV, hatte ich vor der Saison in die Schublade „Risiko“ einsortiert. Das gilt vor allem für Baldwin, dem nicht gerade der Ruf vorauseilt, ein pflegeleichter Spieler zu sein. Dazu kam, dass sein Dreier, der während seiner College-Zeit mit über 40 Prozent noch verlässlich fiel, sowohl in der NBA (25 Prozent) als auch während seiner europäischen Premierensaison bei Olympiakos Piräus (26,7) zu einem stumpfen Schwert mutierte. Auch waren die 5,5 Punkte und 1,8 Assists (bei 1,5 Ballverlusten) mit teilweise fragwürdiger Körpersprache bei den Griechen nicht unbedingt ein Empfehlungsschreiben. All diese Dinge waren den Verantwortlichen bewusst. Aber ganz offensichtlich hatten sie nicht nur Mut, sondern vor allem auch einen Plan wie man Wade Baldwin trotz dieser Fragezeichen gewinnbringend einbinden kann – und der ging zu erheblichen Teilen auf (was auch die FAZ kürzlich ausführlich thematisierte). Bestes Beispiel dafür ist der 90:77-Hinspielsieg gegen den heutigen Gegner Barcelona (auch da lag München zur Halbzeit übrigens zurück), bei dem Baldwin 29 Punkte auflegte, dabei elf seiner 17 Feldwürfe traf und sieben Assists verteilte (Video rechts). Und auch Jalen Reynolds, der ähnlich wie Baldwin manchmal emotional eingenordet werden muss, lieferte auf hohem Niveau ab. Beeindruckend ist dabei seine Konstanz: In 28 von 33 Euroleague-Spielen punktete der Center zweistellig (im Schnitt 13,7 Punkte und 5,9 Rebounds).
Kochs Nachschlag
Die Bayern haben die Erwartungen in dieser Euroleague-Saison schon deutlich übertroffen. Aber der Charakter, den die Mannschaft bislang an den Tag gelegt hat, erlaubt berechtigte Hoffnungen, dass sie auch in den Playoffs aus ihrer Außenseiterposition heraus angreifen wird. Es steht zu erwarten, dass sich die (finanzielle) Ausgangsposition zukünftig verbessern wird. Präsident Herbert Hainer hat angekündigt, dass man perspektivisch auch internationale Topspieler nach München holen möchte und darüber hinaus das Ziel formuliert, „ganz vorn in Europa zu landen“. Diese Möglichkeiten sieht ganz offensichtlich auch die Euroleague, die den Bayern angeboten hat, über eine A-Lizenz ein permanentes Teilnahmerecht zu erlangen.
Das ist aber alles Zukunftsmusik. Jetzt gilt es zunächst einmal, die erste Playoff-Teilnahme zu genießen und davor noch den heutigen Hauptrundenabschluss in Barcelona. Dieses Spiel verspricht ein besonderes zu werden, weil Pau Gasol voraussichtlich sein erstes Spiel seit mehr als zwei Jahren bestreiten wird und sein erstes für den FC Barcelona seit 20 Jahren. Wer weiß, vielleicht produzieren die Münchner schon bald wie die Katalanen auch Legenden im Fußball und im Basketball.
Zur Person:
Stefan Koch war zwei Jahrzehnte lang Headcoach in der ersten Liga und wurde 2000 und 2005 als Trainer des Jahres ausgezeichnet. Er erreichte mit seinen Teams regelmäßig die Playoffs und trat sieben Mal im Europapokal an. Sechs Mal nahm er am TOP FOUR teil und gewann 2000 mit Frankfurt den Pokal. Zudem war der Hesse drei Mal Headcoach des All-Star-Games. Koch arbeitet aktuell als Kommentator bei MagentaSport, war früher auch als Experte und Kommentator für SPORT1, Premiere und Sportdigital tätig, sowie als Scout für die NBA. Seine Kolumne „Kochs Nachschlag“ erscheint regelmäßig auf der Homepage der easyCredit BBL. Außerdem produziert er gemeinsam mit Oliver Dütschke im Zweiwochentakt den Podcast „Talkin‘ Basketball“, der auf allen gängigen Plattformen abrufbar ist.